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Grobfahrlässigkeit

In Kürze

Grobfahrlässigkeit

Fahrlässigkeit: Das kann passieren! = Keine Leistungskürzung

 

Grobfahrlässigkeit: Das darf nicht passieren! = Leistungskürzung

 

Kürzungen bei Nichtberufsunfällen:

Keine Kürzung bei Berufsunfällen

 

Expertensysteme: Kürzung und Verweigerung der Versicherungsleistungen

  •  Diese Applikation beurteilt, ob und wie die Leistungen zu kürzen oder zu verweigern sind.

Gesetzliche Bestimmung

Grobfahrlässigkeit

Art. 37 Abs. 2 UVG

 

In Abweichung von Artikel 21 Absatz 1 ATSG werden in der

nach dem Unfall ausgerichtet werden, gekürzt, wenn der Versicherte den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt hat.

 

Die Kürzung beträgt jedoch höchstens die Hälfte der Leistungen, wenn der Versicherte im Zeitpunkt des Unfalls für Angehörige zu sorgen hat, denen bei seinem Tode Hinterlassenenrenten zustehen würden.

Für Kürzung notwendiger Kausalzusammenhang zwischen Verhalten und Kürzung

Grundsatz

Urteil 8C_263/2103 vom 19.08.2013 E. 4.3 (Volltext): Natürliche und adäquate Kausalität als Voraussetzung

 

Eine grobe Fahrlässigkeit rechtfertigt eine Kürzung der Leistungen des Unfallversicherers nur dann, wenn zwischen dem Verhalten und dem Unfallereignis oder seinen Folgen ein natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang vorliegt.

Bejahung der Adäquanz heisst, Verhalten stellt wesentliche Ursache dar

Urteil 8C_9/2023 vom 10.05.2023 E. 5.5.2 (Volltext)

 

Für die Bejahung des adäquaten Kausalzusammenhangs genügt es, 

  • wenn das grobfahrlässige Verhalten der versicherten Person eine wesentliche Ursache darstellt. 

Grundsätzlich unmassgeblich ist, ob noch andere Umstände an der Schadensverwirklichung mitbeteiligt waren. Allfälliges Drittverschulden ist darum nicht zu berücksichtigen, es sei denn, dass es eine derart intensive kausale Bedeutung hat, dass der Kausalzusammenhang zwischen dem Verschulden des Versicherten und dem Unfall bzw. den Unfallfolgen nicht mehr als adäquat erscheint (Urteil U 186/01 vom 20. Februar 2002 E. 4a und 4b).

Nichttragen der Sicherheitsgurten

BGE 109 V 150 vom 30.08.1983 E. 3c (Volltext): Kausales Verhalten mit Kürzung

 

Aufgrund der wissenschaftlich gesicherten Erfahrungen mit Sicherheitsgurten kann daher im Regelfall auch ohne aufwendige unfalltechnische und -medizinische Untersuchungen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass Sicherheitsgurten wirksam gewesen wären und dass Verletzungen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht oder nicht im selben Ausmass entstanden wären. In diesem Sinne ist der adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem Nichttragen der Gurten und den erlittenen Unfallfolgen als gegeben zu betrachten, soweit aufgrund der besonderen Unfallverumständungen nicht das Gegenteil angenommen werden muss.

UVG Ad-Hoc-Empfehlung Nr. 16/83 (Volltext): Von Gurtentragpflicht befreite Personen

 

Personen, die aufgrund von Art. 3a Abs. 2 der Verordnung über die Strassenverkehrsregeln von der Gurtentragpflicht befreit sind, handeln nicht grobfahrlässig, wenn sie die Gurten nicht tragen.

Nichttragen von Schutzhelfen

UVG Ad-Hoc-Empfehlung Nr. 05/90 (Volltext)

 

Wie für die Gurtentragpflicht ( siehe Empfehlung Nr. 16/83) gilt auch für die Helmtragpflicht:

 

Personen, die aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen (Art. 3 b Abs 2 und 4 der Verordnung über die Strassenverkehrsregeln VRV) von der Pflicht, einen Schutzhelm zu tragen, befreit sind handeln nicht grobfahrlässig, wenn sie den Schutzhelm nicht tragen. 

Schläge ins Gesicht nach zu dichtem Aufschliessen zum Überholen

Urteil 8C_263/2013 vom 19.08.2013 E. 5.2 (Volltext): Kein Kausalzusammhang ohne Kürzung

 

Nach Angaben des Versicherten wollte er einen vor ihm fahrenden BMW überholen, dessen Lenker habe ihn jedoch nicht gewähren lassen. Der Beifahrer des BMW-Lenkers zeigte dem Versicherten den "Stinkefinger", weil er sich über sein zu dichtes Aufschliessen und Betätigen der Lichthupe geärgert habe. Ausgangs der nächsten Ortschaft bremste der BMW-Fahrer den Versicherten bei einer Verkehrsinsel aus, sein Beifahrer stieg aus und verpasste dem Versicherten durch die geöffnete Fensterscheibe mehrere Schläge ins Gesicht.

 

Resultat: Keine Kürzung infolge fehlendem adäquaten Kausalzusammenhang

Kürzungssätze ohne Einfluss von Alkohol

Kürzungen im Strassenverkehr als Fussgänger

Basiert auf der aufgehobenden UVG Ad-Hoc-Empfehlung Nr. 26/84:

  • Wer unvermittelt ein Tramtrassee betritt, ohne sich zu vergewissern, dass kein Tram herannaht, weil er seinen Blick auf ein Mobiltelefon richtet, handelt gemäss BGE 148 lll 343 vom 20.05.2022 grobfahrlässig. Kürzungsempfehlung von Koordination Schweiz: 20 %
  • Nichtbenützen von Trottoirs/Fussgängestreifen: 10 %
  • Kopfloses Betreten der Fahrbahn: 10 %
  • Missachten von Lichtsignalen: 10 %

Kürzungen im Strassenverkehr als Radfahrer oder Mofafahrer

Basiert auf der aufgehobenden UVG Ad-Hoc-Empfehlung Nr. 26/84:

  • Fahren auf der Gegenfahrbahn: 20 %
  • Missachten des Vortrittsrechts in klaren Situationen: 10 %
  • Missachten von Stop- und Lichtsignalen: 10 %
  • Überfahren von Sicherheitslinien: 20 %
  • Linksabschwenken ohne Rücksicht auf den übrigen Verkehr: 10 %
  • Übersetzte Geschwindigkeit: 10 - 20 %
  • Fahren ohne Licht bei Dunkelheit: 10 %
  • Fahrradfahren ohne Helm: 0 % (Meinung Koordination Schweiz)
  • Kollission mit PW infolge Nichtbeherrschen des Fahrrads, Unachtsamkeit, unangepasste Geschwindigkeit von 30 km/h sowie Missachtung des Fahrverbots: 10 % (Nur ob überhaupt eine Grobfahrlässigkeit vorlag, war Bestandteil des Urteil 8C_9/2023 vom 10.05.2023, nicht jedoch die Höhe der Kürzung.)

Kürzungen im Strassenverkehr als Lenker eines Motorfahrzeuges

Basiert u. a. auf der aufgehobenden UVG Ad-Hoc-Empfehlung Nr. 26/84:

  • Missachtung Stopp- und Lichtsignal bei Bahnübergang (Kollision Motorrad/Lokomotive in Portugal): 10 % (Urteil 8C_201/2021 vom 01.07.2021)  
  • Überfahren doppelte Sicherheitslinie: 20 % (Urteil 8C_881/2014 vom 12.05.2015)
  • Übersetzte Geschwindigkeit: 10 - 30 %
  • Missachten von Stop- und Lichtsignalen: 10 %
  • Missachten des Vortrittsrechts in klaren Situationen: 10 %
  • Linksabbiegen ohne Rücksicht auf den übrigen Verkehr: 10 %
  • Geisterfahrer auf der Autobahn: 20 %
  • Gefährliches Überholen: 10 - 30 %
  • Fahren ohne Licht: 20 %
  • Benützen eines nichtverkehrssicheren Fahrzeuges: 10 - 20 %
  • Nichttragen der Sicherheitsgurten oder des Helms: 10 %
  • Benutzung des Mobile während der Fahrt: 20 % (Meinung Koordination Schweiz)

UVG > Vergehen / Verbrechen > Abgrenzung zu einer Kürzung gemäss Art. 37 Abs. 3 UVG inkl. Beispiel

Spiel und Sport / Waffenmanipulation / Schutzvorrichtungen

Krasse Verstösse gegen Spiel- und Sportregeln und gegen allgemein übliche Vorsichtsgebote (Ausbildung, Vorbereitung, Ausrüstung):

  • Kürzung 10 - 30 %

Skifahren bei nicht angepasstes Tempo (zu schnelle oder rücksichtslose Fahrweise durch Zeugen bestätigt):

  • Kürzung 10 - 30 %

Manipulation an einer Waffe ohne vorherige Kontrolle (Lauf, Magazin, Sicherung):

  • Kürzung 10 - 30 %

Arbeiten an Maschinen ohne Benützung der vorhandenen Schutzvorrichtungen:

  • Kürzung 10 %

Sturz aus dem Fenster

Urteil 8C_103/2015 vom 01.07.2015 E. 5.2 (Volltext): Kein Wagnis, jedoch grobfahrlässig

 

Abgrenzung zwischen Wagnis und Grobfahrlässigkeit:

 

Es ist dem Unfallversicherer zwar zuzugestehen, dass das

  • Sitzen auf dem äusseren Sims in einer Höhe von 6,4 m während eines Schwindelanfalls - unabhängig davon, ob die Beine nach innen oder nach aussen gerichtet sind -

ein Wagnis darstellt.

 

Allerdings ist mit der Vorinstanz und der Versicherten einig zu gehen, dass nicht mit dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, die Versicherte sei aus dem Sitzen auf dem äusseren Fenstersims auf die Terrasse heruntergefallen.

 

Denn bei der vorliegenden Datenlage, welche sich nachträglich nicht mehr vervollständigen lässt, sind mehrere Körperhaltungen am offenen Fenster gleichermassen möglich. In Betracht fallen namentlich

  • ein Stehen am Fenster
  • und ein Knien auf dem inneren Fenstersims mit jeweils nach aussen geneigtem Oberkörper,

Haltungen also, welche den Wagnisbegriff nicht erfüllen. Unter diesen Umständen kann keine Leistungskürzung wegen Eingehens eines Wagnisses erfolgen.

Sprung in den Fluss

Urteil 8C_873/2014 vom 13.04.2015 (Volltext): Kürzung 30 %

 

Absichtlicher Sprung aus einer Höhe von etwa drei Metern in den acht Grad kalten Fuss; im Anschluss während ca. zwanzig Minuten knapp fünf Kilomenter von der Strömung mitgerissen; schlussendlich Bergung durch die Feuerwehr mit erfolgreicher Reanimation.

 

Kürzung der Taggelder infolge Grofahrlässigkeit gemäss Art. 37 Abs. 2 UVG von 30 %.

Unfreundlicher Wortwechsel / Einfache Provokation

Urteil 8C_877/2009 vom 28.06.2010 E. 3.3.2 (Volltext): Grobfahrlässigkeit

 

Sachverhalt: Der Versicherte stieg beim Bahnhof Y. gleichzeitig mit anderen Personen in den Tramwagen und danach gestikulierend und in schrillem Ton am Mobiltelefon zu sprechen begann. Er begab sich kurze Zeit vor Erreichen der Endhaltestelle in den hintersten Teil des Tramwagens, wo er auf den dunkelhäutigen D. traf. Dieser schlug ihn nach den von ihm selbst geäusserten Worten "Neger" oder "Nigger" mit einem Kopfstoss nieder und verpasste ihm mindestens eine Ohrfeige bzw. einen Faustschlag und mindestens einen Fusstritt. 

 

Resultat:

  • Der Versicherte übersieht, dass objektiv der Ausdruck "Neger" gegenüber einer dunkelhäutigen Person als rassistisch empfunden wird.
  • In Letzterem kann keine (starke) Provokation erblickt werden. 
  • Insgesamt ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein grobfahrlässiges Verhalten des Versicherten erwiesen. 
  • 20 % Kürzung der Leistungen gemäss Art. 37 Abs. 2 UVG.

ATSG > Aussergewöhnliche Gefahren > Starke Provokation

Kürzungssätze mit Einfluss von Alkohol

Fahren eines Motorfahrzeuges im angetrunkenen Zustand

0.50 bis 0.79 Promille: Kürzung 10 - 15 %

  • Gemäss Art. 91 SVG ist das Fahren in angetrunkenem Zustand eine Übertretung. Zu einem Vergehen wird es bei einer qualifizierten Blutalkoholkonzentration. Die qualifizierte Blutalkoholkonzentration legt das Parlament in einer Verordnung fest (Art. 55 SVG). Die Bundesversammlung hat die qualifizierte Konzentration auf 0.8%o festgelegt.
  • Kummulation mit weiteren Kürzungstatbeständen infolge Grobfahrlässigkeit prüfen.

Ab 0.80 Promille:

Kürzung für Mitfahrer gemäss Art. 37 Abs 2 UVG um 20 % bei einer Alkoholisierung des Lenkers ab 2.00 Promille.

Alkoholisierte Velofahrer und Motorfahrradfahrer

Basiert auf der aufgehobenden UVG Ad-Hoc-Empfehlung Nr. 26/84:

 

Grad der Alkoholisierung: Kürzung

  • 0.80 - 1.49 Promille: 10 %
  • 1.50 - 1.99 Promille: 20 %
  • Über 2.00 Promille: 30 %

Alkoholisiertes Verhalten im Alltag und beim Skifahren

Wer sich stark betrinkt (mindestens 2 %o) und beim Treppensteigen das Gleichgewicht verliert, so dass er abstürzt; unerheblich ist, dass der Versicherte keinen schwierigen oder gefährlichen Heimweg vor sich hat oder keine derartige Handlung auszuführen hat (Suva-Jahresbericht 1959):

  • Kürzung 20 %

Wer sich in alkoholisiertem Zustand ( 3.3 %o) bei laufendem Motor in der Garage aufhält (Suva-Jahresbericht 1969):

  • Kürzung 50 %

Skifahren: Kürzung bei zu schneller oder rücksichtsloser Fahrweise mit Alkoholeinwirkung:

  • Kürzung 10 - 30 %