Arbeitgeberähnliche Stellung in der Arbeitslosenversicherung
Inhalt
Weisung AVIG ALE (AVIG-Praxis ALE)
Rechtsprechung in chronologischer Reihenfolge
- Keine arbeitgeberähnliche Stellung für Minderheitsaktionär (49 %) nach Verwaltungsratsrücktritt
- Firmenkonglomerat derselben Familie
- Kein Leistungsanspruch einer Gesellschafterin bei Scheidung
- Bis zum Scheidungsurteil bestehendes Missbrauchsrisiko
- Beurteilung der Deckung bei Liquidationstätigkeiten
- GmbH nach deutschem Recht
- Im Betrieb mitarbeitende Ehegatten von arbeitgeberähnlichen Personen; Ehetrennung
- Risiko des Missbrauchs genügt
- Mitarbeitende Ehegattin als arbeitgeberähnliche Person ohne ALV-Deckung
- Grundsatz
- Anspruch von Vizedirektoren eines Grossbetriebes auf Kurzarbeitsentschädigung
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Gesetzliche Bestimmungen
Anspruchsvoraussetzungen
Weisung AVIG ALE (AVIG-Praxis ALE)
Arbeitslosenentschädigung (ALE)
Weisung AVIG ALE (AVIG-Praxis ALE)
Rechtsprechung in chronologischer Reihenfolge
Keine arbeitgeberähnliche Stellung für Minderheitsaktionär (49 %) nach Verwaltungsratsrücktritt
Urteil 8C_413/2024 vom 08.10.2024 (Volltext)
Streitgegenstand:
Streitig und zu prüfen war, ob der Versicherte A. ab dem 11. August 2023 keine arbeitgeberähnliche Stellung mehr innehatte und somit Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung hatte, sofern die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt waren.
Entscheid des Gerichts:
Das Bundesgericht wies die Beschwerde der Unia Arbeitslosenkasse ab. Es bestätigte das Urteil der Vorinstanz, dass der Versicherte A. ab dem 11. August 2023 keine arbeitgeberähnliche Stellung mehr bekleidete und somit Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung hatte, sofern die übrigen Anspruchsvoraussetzungen gemäss Art. 8 AVIG erfüllt waren (E. 3.1).
Begründung des Gerichts:
- Der Versicherte A. hatte nach seinem Rücktritt aus dem Verwaltungsrat am 10. August 2023 als Minderheitsaktionär mit 49% der Aktien keine arbeitgeberähnliche Stellung mehr inne (E. 5.1).
- Trotz seines erheblichen Aktienanteils bestand kein Missbrauchspotential mehr:
- Es bestanden erhebliche Differenzen zwischen ihm und den übrigen Verwaltungsratsmitgliedern (E. 5.2.3.1).
- Er bemühte sich aktiv um den Verkauf seiner verbliebenen Aktien (E. 5.2.3.1, 5.2.3.2).
- Eine erzwungene Wiederanstellung durch Blockade von Beschlüssen erschien unwahrscheinlich (E. 5.2.3.2).
- Informeller Einfluss oder Allianzen mit anderen Aktionären waren aufgrund der Verhältnisse nicht möglich (E. 5.2.3.3).
- Seine Einflussmöglichkeiten als Minderheitsaktionär waren nicht ausreichend, um eine Wiederanstellung zu erwirken (E. 5.2.3.4).
- Das Gericht folgte dem Grundsatz, dass der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung nicht bis zur definitiven Aufgabe der Aktionärsstellung ausgeschlossen werden sollte, wenn keine Missbrauchsgefahr mehr besteht (E. 5.2.3.5).
Firmenkonglomerat derselben Familie
Urteil 8C_721/2023 vom 30.04.2024 E. 3.2 und 4.2.3 (Volltext)
Sachverhalt:
- A. war bis 15. Januar 2022 bei B. Consulting (Einzelunternehmen seiner Mutter) angestellt.
- Gleichzeitig war er seit Juli 2020 Gesellschafter und Geschäftsführer der D. GmbH.
- Am 25. Februar 2022 verkauften A. und sein Bruder ihre Anteile an der D. GmbH an ihre Mutter.
- Die Mutter übertrug die Anteile am 12. April 2022 an ihren Ex-Ehemann (A.'s Vater).
Entscheid des Gerichts:
Das Bundesgericht bestätigt das Urteil der Vorinstanz:
- A. hat ab dem 25. Februar 2022 Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, sofern die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind.
Begründung des Gerichts:
- Ein Firmenkonglomerat lag nur bis zur Auflösung des Einzelunternehmens der Mutter am 31. Januar 2022 vor.
- Ab 25. Februar 2022 hatte A. keine formelle Organstellung mehr in der D. GmbH.
- Die Löschung im Handelsregister und die Übertragung der Anteile innerhalb der Familie reichen nicht aus, um eine fortbestehende arbeitgeberähnliche Stellung anzunehmen.
- Es konnten keine konkreten Beweise für eine weiterhin bestehende faktische Einflussnahme von A. auf die D. GmbH gefunden werden.
Kein Leistungsanspruch einer Gesellschafterin bei Scheidung
Urteil 8C_105/2024 vom 30.04.2024 E. 4.2, 4.3 und 4.4 (Volltext)
Sachverhalt:
- Die Versicherte war als Gesellschafterin einer GmbH im Handelsregister eingetragen.
- Sie beantragte Arbeitslosenentschädigung.
- Zum relevanten Zeitpunkt befand sie sich in einem Scheidungsverfahren.
- Aus gesundheitlichen Gründen konnte sie nicht mehr als Köchin arbeiten.
Entscheid des Gerichts:
- Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab.
- Es bestätigte den Entscheid der Vorinstanz, dass die Versicherte keinen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung hatte.
- Die zu Unrecht bezogenen Leistungen müssen zurückgezahlt werden.
Begründung des Gerichts:
- Als Gesellschafterin einer GmbH hat die Versicherte von Gesetzes wegen einen massgeblichen Einfluss auf das Unternehmen, unabhängig von der Höhe ihrer Gesellschaftsanteile.
- Bei GmbH-Gesellschaftern ist keine Einzelfallprüfung erforderlich.
- Die gesundheitlichen Gründe, die sie an der Arbeit als Köchin hinderten, ändern nichts an ihrer arbeitgeberähnlichen Stellung.
- Bis zum rechtskräftigen Scheidungsurteil genügt das Risiko eines Missbrauchs, um den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung zu verneinen.
- Das Gericht sah keinen Grund für eine Änderung der bestehenden Rechtsprechung.
Bis zum Scheidungsurteil bestehendes Missbrauchsrisiko
Urteil 8C_722/2023 vom 08.03.2024 (Volltext)
4.2. Das kantonale Gericht hat mit in allen Teilen zutreffender Begründung, worauf verwiesen wird, richtig erkannt, dass nach konstanter Rechtsprechung zur arbeitgeberähnlichen Stellung des Versicherten bzw. des mitarbeitenden Ehegatten (vgl. zuletzt Urteil 8C_668/2022 E. 3.2 mit Hinweisen) bis zum Scheidungsurteil ein Missbrauchsrisiko persistiert, und zwar unabhängig davon, ob und wie lange die Ehepartner faktisch oder gerichtlich getrennt leben oder ob gerichtliche Eheschutzmassnahmen angeordnet wurden. Selbst wenn der Scheidungswille der schon lange getrennt lebenden Ehepartner als unerschütterlich feststehend erscheint, was hier weder erstellt noch widerlegt ist, kann der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung nicht entstehen (BGE 142 V 263 E. 5.2.2 und Urteil 8C_87/2023 vom 14. September 2023 E. 2.2, je mit Hinweisen).
4.3.1. Die vom Versicherten geltend gemachte Ausgangslage, wonach die Eheleute unbestritten nach wie vor nicht geschieden sind, obwohl sie offenbar bereits seit 2022 getrennt leben, lässt laut angefochtenem Urteil das praxisgemäss bis zum Scheidungsurteil bestehende Missbrauchsrisiko nicht entfallen (E. 4.2 hiervor). …
Beurteilung der Deckung bei Liquidationstätigkeiten
Urteil 8C_379/2022 vom 21.11.2022 E. 5.1.2 (Volltext)
Rechtsprechungsgemäss sind die im Betrieb mitarbeitenden Ehegatten arbeitgeberähnlicher Personen vom Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ausgeschlossen, und zwar unabhängig davon, ob sie selber ebenfalls eine arbeitgeberähnliche Stellung innehaben (BGE 142 V 263 E. 4.1). Ist der Betrieb als GmbH ausgestaltet und bekleidet der Ehepartner die Funktion als Gesellschafter, so steht seine arbeitgeberähnliche Stellung ohne weitere Prüfung im Einzelfall fest (BGE 145 V 200 E. 4.2 mit weiteren Hinweisen).
Demgegenüber sind Liquidatoren - und deren Ehepartner - nach ständiger Praxis "nur" in der Regel vom Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ausgeschlossen. Im begrenzten Rahmen der Liquidationstätigkeiten können sie zwar weiterhin die Geschicke des Betriebs bestimmen und sind daher nicht endgültig aus dem Betrieb ausgeschieden. Das Missbrauchsrisiko beruht bei Liquidatoren in erster Linie auf der Möglichkeit, sich selbst (bzw. den Ehegatten) während der Liquidationsphase wieder einzustellen oder den Betrieb zu reaktivieren. Wenn allerdings aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls ein Missbrauch mit einem sehr hohen Grad an Sicherheit ausgeschlossen werden kann, rechtfertigt es sich nicht, den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung wegen einer arbeitgeberähnlichen Stellung zu verneinen (Urteil 8C_401/2015 E. 2.2).
GmbH nach deutschem Recht
BGE 145 V 200 vom 20.03.2019 (Volltext): Analog OR keine Deckung
Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG; kein Anspruch des Gesellschafters einer GmbH auf Arbeitslosenentschädigung.
Festhalten an der Rechtsprechung, wonach sich der massgebliche Einfluss eines Gesellschafters oder einer Gesellschafterin einer GmbH nach schweizerischem Recht (mit oder ohne Geschäftsführerfunktion) bereits aus der Gesellschafterstellung an sich ergibt (E. 4.1-4.5).
Diese Rechtsprechung zur arbeitgeberähnlichen Stellung der Gesellschafter einer GmbH nach schweizerischem OR gilt auch für die Gesellschafter einer GmbH nach deutschem GmbHG (E. 4.6).
Im Betrieb mitarbeitende Ehegatten von arbeitgeberähnlichen Personen; Ehetrennung
BGE 142 V 263 vom 06.04.2016 (Volltext)
Da bis zum Scheidungsurteil ein Missbrauchsrisiko persistiert, sind vor diesem Zeitpunkt keine Leistungen der Arbeitslosenversicherung geschuldet, unabhängig davon, ob und wie lange die Ehepartner faktisch oder gerichtlich getrennt leben oder ob gerichtliche Eheschutzmassnahmen angeordnet wurden. Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung kann bei andauernder Ehe bei Umgehungsgefahr - wie im vorliegenden Fall - nicht einmal dann entstehen, wenn der Scheidungswille der schon lange getrennt lebenden Ehepartner als unerschütterlich feststehend erscheint (E. 5.2.2; Beantwortung der in den Urteilen 8C_74/2011 vom 3. Juni 2011 und 8C_1032/2010 vom 7. März 2011 offengelassenen Frage).
Risiko des Missbrauchs genügt
Urteil 8C_850/2010 vom 28.01.2011 E. 4.2 (Volltext)
Der Versicherte übersieht bei seiner Argumentation, dass die Rechtsprechung gemäss BGE 123 V 234 gerade nicht nur dem ausgewiesenen Missbrauch an sich, sondern bereits dem Risiko eines solchen begegnen will, welches der Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung an arbeitgeberähnliche Personen und deren Ehegatten inhärent ist (ARV 2003 Nr. 22 S. 240 E. 4, C 92/02; SVR 2007 ALV Nr. 21 S. 69, C 180/06). Ein konkreter Missbrauch muss demgemäss nicht vorliegen, weshalb von einer Prüfung der konkreten Umstände abgesehen werden konnte. Der implizite Einwand, die Firma sei zeitweise inaktiv gewesen, vermag nichts am Ergebnis zu ändern (BGE 123 V 234 E. 7b/bb S. 238; Urteil 8C_509/2007 vom 8. Mai 2008 E. 3.2).
Eine beschlossene oder angeordnete Liquidation - in casu bereits die dritte Liquidation innert kurzer Zeitspanne, nachdem die Gesellschaft nach den ersten zwei Liquidationen nicht aus dem Handelsregister gelöscht und jeweils wieder aktiviert worden war - ist ebenfalls kein taugliches Kriterium dafür, das Ausscheiden einer Person in arbeitgeberähnlicher Stellung zu belegen (Urteil C 75/04 vom 20. April 2005 E. 3). Auf die Ausführungen des Versicherten zur Frage, ob er überhaupt eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt hatte, muss unter diesen Umständen nicht eingegangen werden.
Mitarbeitende Ehegattin als arbeitgeberähnliche Person ohne ALV-Deckung
Urteil 8C_380/2010 vom 18.08.2010 (Volltext)
3. 2 ... Entgegen den Vorbringen in der Beschwerde ist die Versicherte mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht aus ihrer "Rolle als Ehefrau eines Quasi-Arbeitgebers herausgetreten". Die geltend gemachte missliche wirtschaftliche Lage des Betriebs mit geplanter Stilllegung der Gesellschaft ist rechtsprechungsgemäss kein taugliches Kriterium, um das definitive Ausscheiden einer arbeitgeberähnlichen Person aus der Firma zu belegen (Urteil C 110/03 vom 8. Juni 2004). Daran ändert auch der Hinweis nichts, ihr damaliger Ehegatte habe per 9. September 2009 eine Vollzeitstelle bei der Firma M. AG angenommen, da dieser weiterhin als einzelzeichnungsberechtigter Verwaltungsrat und Alleinaktionär der Firma I. AG im Handelsregister eingetragen blieb. Die Stellung der Ehegattin einer arbeitgeberähnlichen Person hatte die Versicherte bis zu ihrer Abmeldung von der Arbeitsvermittlung am 27. Juli 2009 inne, was rechtsprechungsgemäss (BGE 123 V 234) einem Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung entgegensteht.
Grundsatz
BGE 123 V 234 vom 04.09.1997 (Volltext)
Ein Arbeitnehmer mit arbeitgeberähnlicher Stellung kann keine Arbeitslosenentschädigung beanspruchen, wenn ihm die Aktiengesellschaft zwar gekündigt hat, er aber nach wie vor als Alleinaktionär und einziger Verwaltungsrat der Gesellschaft amtet.
Anspruch von Vizedirektoren eines Grossbetriebes auf Kurzarbeitsentschädigung
BGE 120 V 521 vom 19.11.1994 (Volltext)
Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Angestellter Mitglied eines obersten betrieblichen Entscheidungsgremiums und damit vom Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung ausgeschlossen ist, muss geprüft werden, welche Entscheidungsbefugnisse ihm aufgrund der internen betrieblichen Struktur zukommen.
Es ist unzulässig, Angestellte in leitenden Funktionen allein deswegen generell vom Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung auszuschliessen, weil sie für einen Betrieb zeichnungsberechtigt und im Handelsregister eingetragen sind.