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Gutachten > Grundlagen

Gesetzliche Bestimmungen

Gutachten

Art. 44 ATSG (gültig ab 01.01.2022 / KSVI)

 

1 Erachtet der Versicherungsträger im Rahmen von medizinischen Abklärungen ein Gutachten als notwendig, so legt er je nach Erfordernis eine der folgenden Arten fest:

  1. monodisziplinäres Gutachten;
  2. bidisziplinäres Gutachten;
  3. polydisziplinäres Gutachten.

2 Muss der Versicherungsträger zur Abklärung des Sachverhaltes ein Gutachten bei einem oder mehreren unabhängigen Sachverständigen einholen, so gibt er der Partei deren Namen bekannt. Diese kann innert zehn Tagen aus den Gründen nach Artikel 36 Absatz 1 Sachverständige ablehnen und Gegenvorschläge machen.

 

3 Mit der Bekanntgabe der Namen stellt der Versicherungsträger der Partei auch die Fragen an den oder die Sachverständigen zu und weist sie auf die Möglichkeit hin, innert der gleichen Frist Zusatzfragen in schriftlicher Form einzureichen. Der Versicherungsträger entscheidet abschliessend über die Fragen an den oder die Sachverständigen.

 

4 Hält der Versicherungsträger trotz Ablehnungsantrag an den vorgesehenen Sachverständigen fest, so teilt er dies der Partei durch Zwischenverfügung mit.

 

5 Bei Gutachten nach Absatz 1 Buchstaben a und b werden die Fachdisziplinen vom Versicherungsträger, bei Gutachten nach Absatz 1 Buchstabe c von der Gutachterstelle abschliessend festgelegt.

 

6 Sofern die versicherte Person es nicht anders bestimmt, werden die Interviews in Form von Tonaufnahmen zwischen der versicherten Person und dem Sachverständigen erstellt und in die Akten des Versicherungsträgers aufgenommen (Verzichtserklärung).

 

7 Der Bundesrat:

  1. kann für Gutachten nach Absatz 1 die Art der Vergabe des Auftrages an eine Gutachterstelle regeln;
  2. erlässt Kriterien für die Zulassung von medizinischen und neuropsychologischen Sachverständigen für alle Gutachten nach Absatz 1;
  3. schafft eine Kommission mit Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen Sozialversicherungen, der Gutachterstellen, der Ärzteschaft, der Neuropsychologinnen und Neuropsychologen, der Wissenschaft sowie der Patienten- und Behindertenorganisationen, welche die Zulassung als Gutachterstelle, das Verfahren zur Gutachtenerstellung und die Ergebnisse der medizinischen Gutachten überwacht. Die Kommission spricht öffentliche Empfehlungen aus.

Art. 44 ATSG (gültig bis 31.12.2021)

 

Muss der Versicherungsträger zur Abklärung des Sachverhaltes ein Gutachten einer oder eines unabhängigen Sachverständigen einholen, so gibt er der Partei deren oder dessen Namen bekannt. Diese kann den Gutachter aus triftigen Gründen ablehnen und kann Gegenvorschläge machen.

Einigungsversuch

Art. 7j ATSV (Erläuterungen 2022 / KSVI)

 

1 Lehnt eine Partei eine Sachverständige oder einen Sachverständigen nach Artikel 44 Absatz 2 ATSG ab, so hat der Versicherungsträger die Ausstandsgründe zu prüfen. Liegt kein Ausstandsgrund vor, so ist ein Einigungsversuch durchzuführen.

 

2 Der Einigungsversuch kann mündlich oder schriftlich durchgeführt werden und ist in den Akten zu dokumentieren.

 

3 Bei der Vergabe eines Auftrags für ein Gutachten nach dem Zufallsprinzip ist kein Einigungsversuch durchzuführen.

Tonaufnahme des Interviews

Art. 7k ATSV (Erläuterungen 2022 / KSVI)

 

1 Das Interview nach Artikel 44 Absatz 6 ATSG umfasst das gesamte Untersuchungsgespräch. Dieses besteht aus der Anamneseerhebung und der Beschwerdeschilderung durch die versicherte Person.

 

2 Der Versicherungsträger hat die versicherte Person mit der Ankündigung der Begutachtung über die Tonaufnahme nach Artikel 44 Absatz 6 ATSG, deren Zweck und die Möglichkeit eines Verzichts auf eine Tonaufnahme zu informieren.

 

3 Die versicherte Person kann mittels einer schriftlichen Erklärung gegenüber dem Durchführungsorgan:

  1. vor der Begutachtung erklären, dass sie auf die Tonaufnahme verzichtet;
  2. bis 10 Tage nach dem Interview die Vernichtung der Tonaufnahme beantragen.

4 Vor dem Interview kann die versicherte Person gegenüber dem Durchführungsorgan den Verzicht nach Absatz 3 Buchstabe a widerrufen.

 

5 Die Tonaufnahme ist von der oder dem Sachverständigen nach einfachen technischen Vorgaben zu erstellen. Die Versicherungsträger sorgen dafür, dass die technischen Vorgaben in den Aufträgen für ein Gutachten einheitlich sind. Die oder der Sachverständige hat sicherzustellen, dass die Aufnahme des Interviews technisch korrekt erfolgt.

 

6 Der Beginn und das Ende des Interviews sind sowohl von der versicherten Person als auch von der oder dem Sachverständigen mündlich unter Angabe der jeweiligen Uhrzeit am Anfang und am Ende der Tonaufnahme zu bestätigen. In gleicher Weise sind Unterbrechungen der Tonaufnahme zu bestätigen.

 

7 Die Sachverständigen und die Gutachterstellen übermitteln dem Versicherungsträger die Tonaufnahmen in gesicherter elektronischer Form zusammen mit dem Gutachten.

 

8 Bestreitet die versicherte Person die Überprüfbarkeit des Gutachtens, nachdem sie die Tonaufnahme abgehört und technische Mängel festgestellt hat, so versuchen das Durchführungsorgan und die versicherte Person, sich über das weitere Vorgehen zu einigen.

Verwendung und Vernichtung der Tonaufnahme des Interviews

Art. 7l ATSV (Erläuterungen 2022 / KSVI)

 

1 Die Tonaufnahme darf nur im Verwaltungsverfahren, im Einspracheverfahren (Art. 52 ATSG), während der Revision und der Wiedererwägung (Art. 53 ATSG), im Rechtspflegeverfahren (Art. 56 und 62 ATSG) sowie im Vorbescheidverfahren nach Artikel 57a IVG von der versicherten Person, den Auftrag gebenden Versicherungsträgern und den Entscheidbehörden abgehört werden.

 

2 Die Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung kann im Rahmen ihrer Aufgaben nach Artikel 7p Absätze 4 und 5 die Tonaufnahme abhören.

 

3 Sobald das Verfahren, für das das Gutachten in Auftrag gegeben worden ist, abgeschlossen und die darauf basierende Verfügung rechtskräftig geworden ist, darf der Versicherungsträger im Einverständnis mit der versicherten Person die Tonaufnahme vernichten.

Anforderungen an Sachverständige

Art. 7m ATSV (Erläuterungen 2022)

 

1 Medizinische Sachverständige können Gutachten nach Artikel 44 Absatz 1 ATSG erstellen, wenn sie:

  1. über einen Weiterbildungstitel nach Artikel 2 Absatz 1 Buchstaben b und c der Medizinalberufeverordnung verfügen;
  2. im Register nach Artikel 51 Absatz 1 des Medizinalberufegesetzes eingetragen sind;
  3. eine gültige Berufsausübungsbewilligung besitzen oder ihre Meldepflicht erfüllt haben, sofern dies nach Artikel 34 oder 35 des Medizinalberufegesetzes notwendig ist; und
  4. über mindestens fünf Jahre klinische Erfahrung verfügen.

2 Fachärztinnen und Fachärzte der allgemeinen inneren Medizin, der Psychiatrie und Psychotherapie, der Neurologie, der Rheumatologie, der Orthopädie, der orthopädischen Chirurgie und der Traumatologie des Bewegungsapparates müssen über das Zertifikat des Vereins Versicherungsmedizin Schweiz (Swiss Insurance Medicine, SIM) verfügen. Ausgenommen sind Chefärztinnen und Chefärzte sowie leitende Ärztinnen und Ärzte in Universitätskliniken.

 

3 Neuropsychologische Sachverständige müssen die Anforderungen nach Artikel 50b KVV erfüllen.

 

4 Mit der Einwilligung der versicherten Person kann von einzelnen Anforderungen nach den Absätzen 1 - 3 abgesehen werden, sofern dies sachlich notwendig ist.

 

5. Im Rahmen der Aus-, Weiter- und Fortbildung können Gutachten von Personen erstellt werden, die noch nicht alle Anforderungen nach den Absätzen 1 - 3 erfüllen. Die Erstellung der Gutachten erfolgt unter der direkten und persönlichen Supervision von Fachärztinnen und Fachärzten oder Neuropsychologinnen und Neuropsychologen, die die entsprechenden Voraussetzungen nach den Absätzen 1 - 3 erfüllen.

Zustellung von Unterlagen

Art. 7n ATSV (Erläuterungen 2022)

 

Sachverständige und Gutachterstellen haben den Versicherungsträgern, den Durchführungsorganen der einzelnen Sozialversicherungen und den zuständigen Gerichten auf Anfrage diejenigen Unterlagen zuzustellen, die für eine Prüfung der fachlichen Anforderungen und der Qualitätsvorgaben notwendig sind.

Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung: Zusammensetzung

Art. 7o ATSV (Erläuterungen 2022)

 

Die Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung besteht aus der Präsidentin oder dem Präsidenten und 12 Mitgliedern. Davon vertreten:

  1. zwei Personen die Sozialversicherungen;
  2. eine Person die Gutachterstellen;
  3. drei Personen die Ärzteschaft;
  4. eine Person die Neuropsychologinnen und Neuropsychologen;
  5. zwei Personen die Wissenschaft;
  6. eine Person das versicherungsmedizinische Ausbildungswesen;
  7. zwei Personen die Patienten- und Behindertenorganisationen

Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung: Aufgaben

Art. 7p ATSV (Erläuterungen 2022)

 

1 Die Kommission erarbeitet Empfehlungen zu:

  1. Anforderungs- und Qualitätskriterien für das Verfahren zur Erstellung von Gutachten;
  2. Kriterien für die Tätigkeit sowie die Aus-, Weiter- und Fortbildung von Sachverständigen;
  3. Kriterien für die Zulassung von Gutachterstellen und deren Tätigkeit;
  4. Kriterien und Instrumenten für die Beurteilung der Qualität von Gutachten.

2 Die Kommission überwacht, wie die Kriterien nach den Buchstaben a - d durch die Sachverständigen und die Gutachterstellen eingehalten werden, und kann aufgrund dieser Überwachung Empfehlungen erarbeiten.

 

3 Sie macht die Empfehlungen öffentlich zugänglich.

 

4 Sie kann von den Versicherungsträgern und Durchführungsorganen der einzelnen Sozialversicherungen die Herausgabe der für die Überwachung der Erfüllung der Kriterien nach Absatz 1 notwendigen Unterlagen und Gutachten verlangen.

 

5 Stellen Versicherungsträger oder Durchführungsorgane der einzelnen Sozialversicherungen eine systematische Nichteinhaltung der Kriterien nach Absatz 1 durch Gutachterstellen fest, so können sie der Kommission die notwendigen Unterlagen und Gutachten für eine Überprüfung der Qualität zukommen lassen.

Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung: Organisation

Art. 7q ATSV (Erläuterungen 2022)

 

1 Die Kommission gibt sich eine Geschäftsordnung. Diese regelt namentlich folgende Punkte:

  1. die Arbeitsweise der Kommission;
  2. den Beizug von Expertinnen und Experten für wissenschaftliche Forschungsarbeiten oder für die Durchführung von Evaluationen;
  3. die Berichterstattung über die Tätigkeiten und die Empfehlungen der Kommission.

2 Das EDI genehmigt die Geschäftsordnung.

 

3 Das Sekretariat der Kommission untersteht fachlich der Präsidentin oder dem Präsidenten der Kommission und administrativ dem BSV.

 

4 Die Präsidentin oder der Präsident, die Mitglieder der Kommission sowie die Mitarbeitenden des Sekretariats unterliegen der Schweigepflicht nach Artikel 33 ATSG.

Bi- und polydisziplinäre medizinische Gutachten

Art. 72bis IVV (Erläuterungen 2022 / KSVI)  

 

1 Medizinische Gutachten, an denen drei und mehr Fachdisziplinen beteiligt sind, haben bei einer Gutachterstelle zu erfolgen, mit welcher das Bundesamt eine Vereinbarung getroffen hat.

 

1bis Medizinische Gutachten, an denen zwei Fachdisziplinen beteiligt sind, haben bei einer Gutachterstelle oder einem Sachverständigen-Zweierteam zu erfolgen, mit der oder dem das BSV eine Vereinbarung getroffen hat.

 

2 Die Vergabe der Aufträge erfolgt nach dem Zufallsprinzip.

Rechtsprechung und Praxis in chronologischer Reihenfolge

In mehreren Institutionen tätige Sachverständige

Urteil 9C_379/2022 vom 23.08.2023 E. 2.3 (Volltext): Zufallsprinzip bleibt gewahrt

 

Wesentlicher Sinn und Zweck einer Vergabe der MEDAS-Begutachtungsaufträge nach dem Zufallsprinzip (BGE 137 V 210 E. 3.1) ist es, Faktoren zu neutralisieren, die die gutachterliche Beurteilung in Einzelfällen sachfremd beeinflussen könnten. Die mit dem beanstandeten Vorgehen (vier nominierte Sachverständige, die gleichzeitig für drei weitere Gutachterstellen tätig sind) verbundene höhere Wahrscheinlichkeit, auf bestimmte Sachverständige zu treffen, wahrt den Anspruch, dass die gutachterliche Beurteilung frei von wirtschaftlichen Abhängigkeiten erfolgen soll. Die hier praktizierte Einsetzung der Gutachter durch die beauftragte MEDAS macht das Zufallsprinzip nicht wirkungslos. Sollten die gerügten personellen Überschneidungen aus anderen Gründen problematisch sein, wäre dies aufsichtsrechtlich anzugehen. 

Einholung des Gutachtens durch webbasierte Vergabeplattform SuisseMED@P

Urteil 8C_534/2022 vom 01.06.2023 E. 4.2.3 (Volltext): Art. 72bis IVV

 

Die Einholung des Gutachtens wird über die vom BSV entwickelte webbasierte Vergabeplattform SuisseMED@P gesteuert und kontrolliert (vgl. BGE 140 V 507 E. 3.1; zu den einzelnen Verfahrensschritten: SuisseMED@P: Handbuch für Gutachter- und IV-Stellen [Anhang V des Kreisschreibens über das Verfahren in der Invalidenversicherung KSVI]). Die Auftragsvergabe erfolgt dabei zwecks ergebnisneutraler Verteilung mittels Zufallsgenerator und "blind". Dies heisst nichts anderes, als dass "niemand Einblick in den Vergabetopf nehmen kann und daher auch keiner mit Sicherheit weiss, wie viele bzw. welche Gutachterstellen zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Auswahl stehen" (vom BSV herausgegebene Information "Auftragsvergabe und Zufallsprinzip SuisseMED@P", Ziff. 3; vgl. Urteil 9C_411/2018 E. 3.2).

UVG-Informationsschreiben des BAG

Mitteilung vom 10.11.2022

Beilage: Vorschlag 'Verzichtserklärung' zu Art. 44 Abs. 6 ATSG

 

Mitteilung vom 10.11.2021

Änderungen im Bereich der Begutachtungen per 01.01.2022